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NS-Zwangsarbeit am Erzberg (Steiermark) 
 
 
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Info 9 - Zwangsarbeit und Linke

Projekt Eisenerz 
 
 
 

Steiriches Erz  
Wie „postmodern“ ist Jörg Haider?
 
Die Auseinandersetzung „Marxismus versus Postmoderne“ als Vermeidungs-Strategie 
 
Von Günther Jacob
 
 
 
Eine Holocaust-Konferenz in Wien 
 
Anfang September 1999, also kurz vor den Wahlen zum österreichischen Nationalrat, fand in Wien eine „internationale Konferenz für Überlebende und Nachkommen der Opfer und Täter des Nationalsozialismus“ statt. Etwa 50 Historiker, Psychoanalytiker und Psychologen setzten sich dort mit den Folgen des Holocaust auseinander. Für die irritierende Parallelisierung von Opfern und Tätern im Titel der Konferenz zeichnete die österreichische Vorbereitungsgruppe verantwortlich. Obwohl während dieser Konferenz wichtige Fragen hinsichtlich der Nachwirkungen von Nationalsozialismus und Holocaust auf die heutigen Gesellschaften in Deutschland und Österreich aufgeworfen wurden, präfigurierte der fragwürdige Titel den Kontext aller Beiträge der dreitägigen Veranstaltung. Die Rede vom angeblichen „Dialog“ zwischen Opfern und Tätern wurde in den Medien gerne aufgegriffen. Tatsächlich fand ein solches Zusammentreffen nur in der Phantasie der Veranstalter statt. Tatsache ist, daß kein einziger ehemaliger Wehrmachtssoldat oder SS-Angehöriger auf der Tagung zugegen war. Das hätten die überlebenden Deportierten unter den Teilnehmern auch nicht ertragen können. Der Schock der Wiederbegegnung mit der Stadt ihrer Vertreibung war groß genug. Man darf vor diesem Hintergrund davon ausgehen, daß die Falschmeldung vom „Dialog zwischen Opfern und Tätern“ auf eine Verschiebung im Verhältnis zwischen der Tätergeneration und ihren Nachkommen verweist. Dabei geht es nicht um eine Rücknahme der Beschuldigung der Alten, sondern um eine gemeinsame Binnensicht, die mehr Berücksichtigung der damaligen „Umstände“ erlaubt und so einen gemeinsamen Vorstellungsraum ermöglicht. Wie die Auseinandersetzung um die „Wehrmachtsausstellung zeigt, kann dabei „unter der Hand“ eine neue Interpretationsgemeinschaft entstehen. 
 
Österreich wählt Antisemitismus und Rassismus  
 
Die Konferenz, die sich, wenn auch in oft fragwürdiger Weise, besonders mit dem Selbstverständnis der Nachkommen der Tätergeneration des Nationalsozialismus beschäftigte, fiel in die heiße Phase eines Wahlkampfes, aus dem Anfang Oktober 1999 Haiders Freiheitliche als eigentliche Gewinner hervorgingen. Auch die Medien sind sich einige gewesen, daß aus Rücksicht auf das rechte Wählerpotential außer dem Wissenschafts- und Verkehrsminister Caspar Einem (der, so heißt es, mit einer Verlängerung seines Jobs ohnehin nicht rechnen konnte), kein anderes Regierungsmitglied an der Konferenz teilnehmen wollte. Nur wenigen Wochen nach dieser Holocaust-Konferenz, verhandeln SPÖ und ÖVP ernsthaft mit Haiders Partei über die Frage der Regierungsbildung. Was immer das Ergebnis sein wird - es steht bereits fest, daß die F-Partei in Österreich von allen anderen Parteien längst als seriöse politische Kraft behandelt wird. Der Rassismus und Antisemitismus der Freiheitlichen ist also gesellschaftsfähig geworden.  
 
„Haiders Wähler sind Modernisierungsverlierer“  
 
Wie reagierten nun marxistische Linke und Antifaschisten konkret auf die beiden, nur wenige Wochen auseinander liegenden Ereignisse? Was war ihre Haltung zu den auf der Konferenz diskutierten Identitätskonzepten der Nachkommen, zum „Dialog der Generationen“ und zum ebenfalls dort diskutierten wirtschaftlichen Nutzen, welchen die Tätergesellschaft bis heute aus der NS-Politik zieht? Immerhin hatten ja alle Wiener Zeitungen sowie der ORF ausführlich über die Konferenz berichtet. Und in Bezug auf Haiders Wahlsieg: Wie reagierten marxistische Linke und Antifaschisten darauf und wie reagierten sie auf die internationalen Reaktionen? Vor allem aber: Welche Rolle spielen für sie jene Menschen, auf deren Ausgrenzung Haiders Wähler hinwirken wollen? Verstehen sie die Angst all derer, die bisher schon Zielscheiben von Boulevardzeitungen waren, die im Verein mit Haider Asylbewerber und andere zu „Drogenhändlern“, „Vergiftern der Jugend“ und „Volksschädlingen“ machten und damit Übergriffe provozierten?  
 
Ich verfolge einige linke und „kulturlinke“ Stimmen aus Österreich und lese, was einige linke österreichische Autoren und Autorinnen in deutschen Medien publizieren. Und da macht doch einiges stutzig: Die Warnungen aus Israel werden meistens nicht einmal erwähnt. Deshalb wird man wohl nie erfahren, wie in linken Kreisen über Israels Staatspräsident Weizman gesprochen wurde, als dieser die österreichischen Juden zum Verlassen des Landes aufforderte. Dabei hatte Haider offen gesagt, was die ganz normalen Österreicher davon halten: „Viele Leute verstehen jetzt, warum es Antisemitismus gibt“.  
 
Viele der mir bekannten linken Kommentare aus Österreich bemühen sich um den Nachweis, daß die von Haider ausgehende Gefahr stark überschätzt wird. Sie betonen, daß die FPÖ nur auf den ersten Blick „faschistisch“ ist, daß sich der Nationalsozialismus ganz gewiß nicht wiederholen werde, daß andere Parteien kaum weniger antisemitisch sind und daß die „internationale Presse“ daher stark übertreibt.  
Das vordringlichste gemeinsame Anliegen aller Autoren ist es offenbar, das „Mißverständnis“ auszuräumen, die FPÖ sei eine „Nazipartei.“ „Nein“, sagen dann alle, „Österreich ist kein Naziland und Haider ist nicht Hitler, sondern ein populistischer Modernisierer mit braunen Flecken.“ Entwarnung also?  
 
Es fällt auf, daß Linke im reichen Österreich im Zusammenhang von Haider ständig von den „drückenden sozialen Problemen“ sprechen, die dringend gelöst werden müßten. Ohne die „Verwirklichung sozialer Mindeststandards“ im Rahmen einer „Reform des Sozialstaates“ - auch „soziale Gerechtigkeit“ oder „solidarische Kultur“ genannt - , sei Haider nicht zu stoppen. Haiders Wähler seien die „Modernisierungsverlierer, die Underdogs, die sozial Benachteiligten“. Der Kampf sei „nur auf der Ebene der Sozialpolitik“ zu gewinnen. „Noch nie waren die Unterschiede zwischen Armen und Reichen so groß“ heißt es im Aufruf „Keine Koalition mit dem Rassismus!“. Diese Lesart findet sich auch bei Autoren, die Haider vor allem als Role Model der „neureichen Hedonisten“ beschreiben. Wie sie sagen, bringt Haider, „Deregulierung“, „Hedonismus“ und „Arbeitslosigkeit“ locker „unter einen Hut“. Wie aber kommen sie auf die Idee, Haider könnte, da Vorbild der Erfolgreichen, die „Ohnmächtigen“ („Jungle World“), „Bedrohten“ („Junge Welt“), „Armen“ („Volksstimme“) und „Underdogs“ („Kunstfehler“) unter seinen Wählern brüskieren und müsse daher den „Wechselbalg“ spielen, der trickreich das Unvereinbare miteinander vermittele? Auf dieses „Problem“ kommt doch nur, wer glaubt, die „kleinen Leute“ bzw. der „kleine Mann“ seien normalerweise „von der bewußten Wahrnehmung sozialer Interessen geleitet“ und es komme daher darauf an, daß sie ihre „objektive Klassenlage“ via „Bewußtsein“ endlich erkennen. Der rassistische Arbeiter kann aus dieser Perspektive nur ein lebender „Widerspruch“ sein. Man muß ihn deshalb behutsam an seine „wirklichen“ Interessen erinnern.  
 
Warum all diese Verknüpfungen? Handelt es sich bei Haiders Anhängern um Sozialfälle, also um Opfer? Sind Rassismus und Antisemitismus ihre (zwar negative, aber „erklärbare“) „Reaktion“ auf den „Neoliberalismus“? Haben Rassismus und Antisemitismus also einen „Grund“? Muß man sich vor allem um die „sozialen Mindeststandards“ der „kleinen Leute“ kümmern, um sie vom Pogrom abzuhalten? Die rassistisch Ausgegrenzten stehen in diesen Texten deutlich nicht im Mittelpunkt. Zugleich ist der Nachweis, daß die Freiheitlichen nicht die NSDAP sind, pure Rhetorik, weil in Wirklichkeit niemand eine solche Behauptung aufgestellt hat. Aber diese Rhetorik ist der Ausgangspunkt aller Erklärungen dazu, wer Haider „wirklich“ ist. Für einige Autoren ist Haider ein „modernisierter und demokratisierter Führertyp“ und seine Partei die „Speerspitze der ökonomischen Liberalisierung und Deregulierung“. Die Perspektive der Haider-Partei sei „die Abschaffung des alten sozialstaatlichen Korporatismus“, der nun angeblich durch einen „Rassismus der Produktiven“ ersetzt werden soll. An diesem Punkt angekommen, bemerken die Verfasser solcher Prognosen jedoch, daß damit die „braunen Spritzer“ und die Forderung Haiders nach Schutzzöllen noch nicht erklärt sind. Und weil nun die eine Einschätzung zur anderen nicht recht passen will, fällt ihnen die Kategorie des „dialektischen Widerspruchs“ ein: Haider, der „es vermutlich selbst nicht weiß“ hat hier „einen Widerspruch vereint“, der „aus der Krise des Keynesianismus in Österreich entsteht.“ „Beruhigend, zu wissen“, sagen sich da alle, die in der Straßenbahn angespuckt werden, „dann sind wir ja bloß in einen Widerspruch hineingeraten“.  
Wir können also sehen, wie unter der Hand der Gegenstand der Betrachtung ausgetauscht wird. Haiders Rassismus und Antisemitismus ist plötzlich nur noch ein Thema unter anderem. Bevor wir es bemerken, diskutieren wir wieder ganz allgemein über Staat & Kapital. Das kann interessant sein. Es fällt nur auf, daß solche Diskussionen die Darstellung der Situation der vom Rassismus Bedrohten einfach ERSETZEN. Denn auf die gesamte Textmenge bezogen, die dem Thema „Haiderismus“ gewidmet ist, kommen am Ende die Meinungen der Menschen, die durch dessen Erfolge akut bedroht sind, nur noch ganz am Rande vor.  
Das besondere Wissen der Ausgegrenzten 
 
Keine finale politökonomische Ableitung wird die Opfer der rassistischen Attacken dazu bringen, ihre Lage als zwar entsetzlich, aber dennoch als Teil historisch bedeutsamer Abläufe zu interpretieren. Sie werden nie bereit sein, sich ihre konkreten Ausgrenzungserfahrung durch ein Gerede über die „Krise des Keynesianismus“ oder die Krise des „wert- und staatsfetischistischen Subjekts“ (gemeint sind die richtigen Österreicher) ausreden zu lassen. Haider und seine Wähler träumen davon, die noch bestehende Lücke zwischen ihrer speziellen Konzeption von geschlossener Gesellschaft und der Realität zu schließen. Zu diesem Zweck soll Haider mit staatlicher Macht ausgestattet werden. Der Haiderismus ist für seine Anhänger keine „Ideologie“, sondern ein System praktischer Chancen. Er funktioniert als Kampfparole einer Verfolgungsabsicht, mit der Haiders Anhänger eine „alternative“ Definition des Kollektivs erzwingen wollen, eine Gemeinschaft, aus deren Verkehrsformen „die Fremden“ ausgeschlossen werden sollen. Sie definieren - ob sie nun Arbeiter sind oder Unternehmer - ihren Staat nicht allein über Gesetze und Institutionen, sondern auch über die mysteriöse Beschwörung eines österreichischen Lebensstils. Die angebliche Bedrohung dieses Lebensstils durch „die Fremden“ ist ihre gemeinsame Überzeugung.  
Vor diesem Hintergrund hat der Gedanke, man müsse jene, die konkret ausgegrenzt werden, in den Mittelpunkt stellen, nichts mit einer Idealisierung der Ausgegrenzten zu tun. Die Perspektive dieser Menschen muß allein deshalb im Mittelpunkt stehen, weil sie im Besitz eines besonderen Wissens sind. Sie haben den Haß in den Augen der anderen gesehen. Sie haben eine Vorstellung davon, was diese am liebsten tun würden und auf wen und was sie derzeit noch Rücksicht nehmen. Die Menschen, denen die Ausgrenzung gilt, kennen Land & Leute besser als andere, auch besser als wir, die wir meistens nicht zu den Angegriffenen gehören. Sie registrieren genauer, schon um ihrer Sicherheit wegen. Sie lesen die kleinen Zeitungsnotizen über Anschläge genauer und sie verstehen es zu deuten, wenn diese Notizen immer mehr im Inneren der Zeitung versteckt werden. Die wichtigste Aufgabe von Linken in einer solchen Situation kann es nur sein, Haiders Publikum keine einzige Konzession zu machen, auf jede populistische Geste zu verzichten und statt dessen den bereits tief verletzten und gedemütigten Opfern der haßerfüllten Ausgrenzung bei der Entwicklung ihrer Rede- und Organisationsmöglichkeiten zu unterstützen.  
 
Vermeidungs-Strategien der Nachkommen der Tätergeneration 
 
Ich möchte die Aufmerksamkeit deshalb auf das Problem der unbewußten Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft und ihren Tradierungen lenken. Dabei möchte ich auf die Rolle eingehen, die „linke Theorien“ in diesem Zusammenhang spielen können.  
Es gibt den aktuellen Haß, der sich wie eine Grippe verbreitet, und den tradierten Haß. Der eine ist vom anderen nicht zu trennen. Ein „Schubhäftling“ aus Afrika erstickte, nachdem österreichische Polizisten ihm dem Mund zugeklebt hatten. Wie der Film „Totschweigen“ am Beispiel des burgenländischen Ortes Rechnitz zeigt, existiert zur gleichen Zeit noch so manches verschwiegene Massengrab, in dem man in den letzten Tagen des Nationalsozialismus die erschossenen Zwangsarbeiter verscharrte. Die bösen Blicke in der Straßenbahn, die jeder „fremdländisch“ wirkende Mensch aushalten muß, haben mit Haiders (1993 gescheiterten) Volksbegehren über eine Verschärfung der „Ausländerpolitik“ ebenso zu tun, wie mit der eingeschränkten Anerkennung der Roma und Sinti als NS-Opfer. Die in der Zeit des Nationalsozialismus „wahr“ gemachten Zuschreibungen wirken in die Gegenwart hinein. In der Fußgängerzone begegnet man dem pensionierten Gutachter, der den Zwangssterilisierten die Opferrenten verweigerte. Dieser Gutachter, dessen Kinder vielleicht bei den Grünen sind, haßt es, daß in der Fußgängerzone „schon wieder“ Bettler, Ausländer, „Zigeuner“ und andere „Arbeitsscheue“ herumlungern. Seine Kinder kritisieren ihn (vielleicht) gelegentlich für seine „konservative“ Einstellung, aber sie werden sein Vermögen erben.  
Während die Geschädigten von damals immer noch mit den seelischen und medizinischen Folgen und Spätfolgen zurechtkommen müssen, lebt das Urteil, das damals über sie gefällt wurde, in den Meinungen „der Leute“ jedoch bis heute fort. Aus Interviews in Täterfamilien geht hervor, daß die fragmentarischen Andeutungen der „Kriegsgeneration“ bis heute auch die Phantasien ihrer Kinder und Enkel beschäftigen. Das unvollständige Bild von der eigenen Familienvergangenheit provoziert den Verdacht, daß da noch mehr dahinter stecken könnte. Aber das Tabu ist zugleich das heimliche Bindeglied zwischen den Generationen. Wenn die FPÖ in Orten wie Kitzbühl an die fünfzig Prozent erreicht, dann ist das auch ein Zeichen dafür, daß das Verhältnis zwischen Jung und Alt dort bestens sein muß. Dafür hat gerade der 1950 als Kind von Nazis geborenen Jörg Haider viel getan. 
Eine 95-Prozent-Mehrheit der Linken in Deutschland und Österreich ist in den Familien der Tätergeneration aufgewachsen. Nur sehr wenige sind Nachkommen von überlebenden jüdischen Deportierten. Etliche Linke kommen aus kommunistischen Elternhäusern oder sie haben Eltern, die aus anderen Gründen Verfolgte des Naziregimes waren. Obwohl dort die Erzählungen über den linken Widerstand häufig den Mord an den Juden in den Hintergrund rückten, wurden diese Linken doch schon früh damit konfrontiert. Vor allem aber haben sie keine Täter oder Mitläufer als Eltern. 
Bei der Mehrzahl der Linken ist das jedoch anders. Ihnen wurde durch Mimik, Gestik und Tonfall nahegelegt, daß genaueres Nachfragen unerwünscht ist. Im Unterschied zu den Kindern der Überlebenden, wissen die Nachkommen der Tätergeneration mehrheitlich nicht einmal, was ihre Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus genau taten. Heute weiß man, daß diese Situation zu Übertragungen führte. Die Eltern haben ihre Kinder auf diese Weise zu Mitwissern gemacht und sie damit vor eine prekäre Alternative gestellt: Sie konnten dieses Wissen für sich behalten, wenn sie die Zuneigung der Eltern und die „Familienidentität“ nicht verlieren wollten, oder sie konnten diesen Zusammenhang politisieren, was einen mehr oder weniger nachhaltigen Bruch mit den Eltern erforderte. Ein solcher Bruch kam in den 60er- und 70er Jahren oft dadurch zustande, daß die Kinder der Täter und Zuschauer Kommunisten wurden, ein Schritt, der ihre Eltern, nachdem sie einen Vernichtungskrieg gegen den „jüdischen Bolschewismus“ geführt hatten, maximal brüskierte.  
 
Unbewußte Identifikation 
 
Zwischen den Extremen „Komplizenschaft“ und „radikaler Bruch“, mit denen Nachkommen der Tätergeneration auf deren „Verwicklungen“ als Täter oder Zuschauer (im Sinn von Raul Hilberg) reagieren können, gibt es vielfältige Abstufungen. Aber selbst im Fall des Bruches gab und gibt es viele Möglichkeiten, der Sache auszuweichen. Eine davon, die schon 1968 häufig wahrgenommen wurde, war die Flucht in Utopien und theoretische Abstraktionen. Man konnte auch Kommunist werden, das Marxsche „Kapital“ studieren, über die Ableitung des Staates streiten, solidarisch mit den „Völkern“ der Welt sein und Arbeiter agitieren, ohne dabei jemals dem Tabuthema wieder begegnen zu müssen. Der Mord an den Juden wurde in den programmatischen Erklärungen der „Neuen Linken“ wie auch der kommunistischen Linken meistens nicht einmal erwähnt. Heute muß man sich daher fragen, wieviel wir eigentlich wirklich wissen wollten?  
 
Offensichtlich gab es viele Möglichkeiten für die linken Nachkommen der Tätergeneration, der Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte auszuweichen. Vieles davon ist offenbar unbewußt geschehen. So kommen zum Beispiel nicht wenige von uns aus einer Linken, die lange genug - und häufig immer noch - mit größter Selbstverständlichkeit, Israel als imperialistischen Staat definierte, eingerichtet allein zu dem Zweck, den „Befreiungskampf der Völker des Nahen Ostens“ zu unterdrücken. Diese feindliche Gleichgültigkeit gegenüber den Existenzbedingungen des Staates, in dem die Überlebenden des Holocaust eine Zuflucht gefunden hatten und insbesondere die 1968 schon verbreitete Behauptung, aus den jüdischen Opfern seien nun selbst Täter geworden, ist ohne Überlegungen über die Rolle unbewußter Identifizierungen mit der Tätergeneration überhaupt nicht zu beschreiben.  
 
Wirtschaftswunder und Erbrecht 
 
Ein bisher noch wenig beachtetes Resultat der Flucht in theoretische Abstraktionen ist das Schweigen über den Zusammenhang zwischen dem überraschend schnellen Wirtschaftsaufschwung nach 1945 und dem Holocaust sowie dem Vernichtungskrieg. Die politische Linke hat zwar unzählige Kapitalismus- und Krisentheorien produziert, um das „Wirtschaftswunder“ der 60er Jahre zu erklären, aber sie hat dabei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, selten über die Verwertung jüdischen Eigentums in ganz Europa, über die Raubzüge der Wehrmacht und über die Modernisierung einer mit Zwangsarbeitern betriebenen Industrie gesprochen. Noch weniger wird über die eigene Partizipation an diesen Profiten (Profiten auch im Bourdieuschen Sinn, also auch z.B. dem Erwerb von Bildungskapital) gesprochen, insbesondere aber nicht über das Erbrecht, das die Übertragung dieser Profite garantiert, wie wir es besonders in den 90er Jahren erleben. Das Erbrecht, früher einmal zentraler Punkt der kommunistischen Programmatik, spielt heute nicht einmal bei den Fraktionen der Linken eine Rolle, die sich der Kritik der politischen Ökonomie oder Adornos metaphorischer Tauschtheorie verschrieben haben.  
 
Schon vor der „Reichspogromnacht“ haben sich die Deutschen und die Österreicher an den Juden bereichert. Wir wissen, daß das nationalsozialistische Ziel die „Endlösung der Judenfrage“ war und daß diesem Ziel die Bereicherungsabsicht untergeordnet war. Trotzdem spielten die Vorteile, die viele „Arier“ aus der Verfolgung und Vernichtung der Juden zogen, keine geringe Rolle bei der Herstellung der Volksgemeinschaft. Diese Vorteile waren und sind vielfältig. Stellen, Wohnungen und Läden wurden frei, Konkurrenten wurden ausgeschaltet, Firmen, Häuser, Grundstücke und Bankkonten wurden „arisiert“, Möbel und Haushaltsgegenstände von Ermordeten aus ganz Europa wurden an die „Ausgebombten“ versteigert oder verschenkt. So manches feine Porzellan und so manches Gemälde, aber auch viele profane Gegenstände (Nähmaschinen, Schränke, Kinderspielzeug etc.), stehen noch heute in den Wohnungen der Tätergeneration. Und so manches Stück wurde, nachdem die Mehrheit der alten Besitzer nicht wieder zurück kam, weil sie ermordet wurden, inzwischen an die Jungen vererbt. Ich kenne Fälle, wo auch Linke wissen oder ahnen, daß Gemälde und andere Gegenstände ermordeten Juden gehörten, wo diese Linken aber - es meldet sich ja niemand! - von sich aus keine Schritte zur Rückgabe unternehmen, indem sie mögliche Erben ausfindig machen. (Österreicher kennen den Fall des international angesehenen Salzburger Kunsthändlers und Galeristen Friedrich Welz. Lange Zeit wollte niemand wissen, daß er „damals“ Einkaufsreisen ins besetzte Paris unternahm und die Wiener Galerie Würthle „arisierte“. In Österreichs Galerien hängen Bilder von Egon Schiele und Gustav Klimt aus beschlagnahmten jüdischen Besitz, an dem Welz verdient hat). 
 
Vernichtung, Raub und Akkumulation 
 
Die Vorteilsnahme ist jedoch viel umfangreicher: „Nach Feststellung namhafter Historiker beruht ein erheblicher Teil des Nachkriegsaufschwungs auf der Ausbeutung Europas sowie der Zwangs- und Sklavenarbeit. Betrachtet man die ökonomische Regenerations- und Akkumulationsfähigkeit der Wirtschaft nach 1945 unter diesem Aspekt, dann wird die Geschichte des „Wirtschaftswunders“ vielleicht eines Tages neu geschrieben werden müssen.“ (Samuel Korn). Es wird noch einige Zeit brauchen, bis diese Geschichte geschrieben ist und wahrscheinlich wird sie nicht von marxistischen Wertkritikern geschrieben werden. Immerhin zeichnet sich inzwischen ab, daß in der Zeit des Nationalsozialismus die deutsche (Kriegs-) Wirtschaft in mehrfacher Hinsicht derart modernisiert wurde, daß das anschließende „Wirtschaftswunder“ in Deutschland und Österreich geradezu unvermeidlich war.  
 
Dazu vier Beispiele: (1) Die Reform der Berufsausbildung gehörte zum Kernstück der nationalsozialistischen Modernisierung. Ab 1936 wurden alle metallverarbeitenden Unternehmen und die Betriebe der Bauindustrie mit 10 und mehr Beschäftigten zur Ausbildung von Lehrlingen verpflichtet. Die Kampagne war so erfolgreich, daß es zunächst zu einem Facharbeiterüberschuß kam, was auch der modern ausgerüsteten Wehrmacht zugute kam. Zugleich war es dadurch möglich, die wenig qualifizierten Tätigkeiten auf Zwangsarbeiter abzuwälzen. Nach 1945 war das hohe Ausbildungsniveau der Arbeiter eine wesentliche Voraussetzung des „Wirtschaftswunders“. (2) Die Aufnahme von Massen- und Serienfertigungen in der Industrie des Deutschen Reichs scheiterte noch Anfang der 40er Jahre oft an Facharbeitermangel. Erst die aus geraubten Mitteln und aus Zwangsarbeit finanzierte organisatorische und technische Rationalisierung, insbesondere die Vereinfachung der Fertigungsmethoden (Standardisierung, Fließfertigung) in der Industrie machte es überhaupt möglich, daß immer mehr ungelernte Zwangsarbeiter auch in der Industrie eingesetzt werden konnten. 1945 machten sie dort 25 Prozent der Arbeitskräfte aus. Durch die Kombination von Zwangsarbeit, Facharbeit und hohem Rationalisierungsniveaus stand die deutsche und österreichische Industrie deshalb 1945 trotz der Zerstörungen glänzend da. (3) Mit dem Todtschen Ministerium für Bewaffnung und Munition hatte sich in der „Ära Albert Speer“ ab 1940 ein neuer Managertyp herausgebildet - jung, selbstverantwortlich, rigoros. Zugleich waren Konjunkturforschungsinstitute, volkswirtschaftliche Stabsabteilungen und Planungsbüros entstanden, die nach 1945 Ordnungspolitik und Marktwirtschaft optimal koordinierten. Die eingespielten Teams arbeiteten praktisch ohne Unterbrechung weiter. Und es dauerte nicht lange, bis wieder die ersten „Fremdarbeiter“ da waren, diesmal jedoch zum Tariflohn. (4) Durch die permanente Modernisierung der Industrie, die mit geraubten Rohstoffen und immer mehr durch Zwangsarbeitern betrieben wurde, verjüngte sich der Kapitalstock erheblich. Die Alterszusammensetzung und die Qualität des industriellen Anlagevermögens war 1945 optimal: 55 Prozent der Anlagen waren jünger als 10 Jahre. In der Produktionsgüterindustrie waren es zwei Drittel. Zugleich war das gesamte Bruttoanlagevermögen zwischen 1935 und 1945 um 75 Prozent vermehrt worden.  
 
Trotz der Kriegszerstörungen war die Wirtschaft Österreichs und Westdeutschlands nach 1945 also auf einem sehr modernen Stand. Zusammen mit dem zunächst niedrigen Lebensstandard und der Arbeits- und Aufbauwut der Tätergeneration (und, nicht zu vergessen, der neuen „Sozialpartnerschaft“) waren das optimale Wachstumsbedingungen. Sechs Millionen „Fremdarbeiter“, zwei Millionen Kriegsgefangene und über eine Million KZ-Häftlinge waren im Deutschen Reich als Sklaven eingesetzt. Lebensmittel, Rohstoffe, Geldbestände, Gold und Silber waren in ganz Europa geraubt worden. Der Besitz der Millionen Ermordeten wurde an die Volksgemeinschaft und teilweise an die Verbündeten verteilt. Die Wehrmacht ernährte sich weitgehend aus den Beständen der überfallenen Länder. Was den Überlebenden später zurückerstattet wurde, ist absolut minimal und noch heute sträubt man sich gegen Entschädigungszahlungen. Aus all dem ist der heutige Reichtum in Deutschland und Österreich entstanden, der jetzt in die Hände der Erben der Tätergeneration übergeht oder bereits übergegangen ist.  
 
Steirischer Herbst und steirisches Erz 
 
Werfen wir in diesem Zusammenhang noch einen Blick auf die Besonderheiten in Österreich: Große Teile der österreichischen Industrie, z.B. die Eisen- und Stahlindustrie in Linz oder der Fahrzeugbau in Steyr,  
sind erst in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden. Ohne den Nationalsozialismus gäbe es heute keine entwickelte Nahrungs- und Genußmittelindustrie und keine Textil- und Bekleidungsindustrie. Allein der forcierten Industrialisierung Österreichs in der „Nazizeit“, unter Benutzung von 700.000 Zwangsarbeitern, ist es zu verdanken, daß das Land nach Kriegsende zum Industriestaat wurde und entsprechend Devisen erwirtschaften konnte, die weitere Importe von Anlagen ermöglichten. Der wirtschaftliche Wiederaufbau in Österreich, der 1948 durch Leistungen im Rahmen des Europäischen Wiederaufbauprogramms finanziert wurde, war entsprechend erfolgreich. 1951 hatte die industrielle Produktion bereits die Vorkriegswerte überschritten und stieg weiter an. Mit dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 gaben zudem die USA, Großbritannien und Frankreich alle Forderungen auf weitere Reparationen auf, und im August verzichtete auch die Sowjetunion auf die österreichischen Lagerstätten für Erdöl, 300 ehemals deutsche Unternehmen und 97 200 Hektar Land.  
 
Der Zusammenhang von Zwangsarbeit, Judenvernichtung und modernisierter Kriegswirtschaft kann also als Grundlage des heutigen Wohlstandes auch in Österreich verstanden werden. Von diesem Wohlstand mußte praktisch nichts zurückgezahlt werden. Jeder österreichische Bürger, ob links oder rechts, profitiert davon. Und das ist allen „unbewußt bewußt,“ weshalb darüber geschwiegen wird. Ein Beispiel: Zu den wichtigsten Reichtumsquellen der Steiermark gehören, neben der Eisen-, Stahl-, Elektro-, Glas- und Holzindustrie, die Bodenschätze Braunkohle, Magnesit, Salz, Graphit und Eisenerz. Als in Graz nun kürzlich eine weitere Runde des angesehenen Kunst-Events „Steiricher Herbst“ stattfand, ging es dort, neben den obligatorischen Symposien über „Popsubversion“ und „Avantgardestrategien“ (Haider sprach derweil auf dem Marktplatz zu seinen Anhängern), auch um die künstlerische Behandlung des „Traumas der Aborigines“. Sicher ein wichtiges Thema. Was aber ist mit dem viel näher liegenden Trauma der in Österreich lebenden Opfer des Nationalsozialismus, was mit den überlebenden Juden und Zwangsarbeitern? Warum spricht man nicht auch über das Steiriche Erz? Der Anschluß Österreichs, der keine „Annexion“ oder „Besatzung“ war, hatte Großdeutschland immerhin die Kriegsvorbereitung erleichtert. Dabei spielten die in Wien gehorteten Gold- und Devisenreserven und die erstklassigen Rüstungsbetriebe ebenso eine Rolle, wie die praktisch unerschöpflichen Erzvorkommen des steirischen Erzberges, der damals von Zwangsarbeitern abgebaut wurde.  
 
Die linke Flucht in theoretische Spekulationen 
 
Vor diesem Hintergrund kann eine bestimmte Form des linken Theoretisierens nur als Derealisierung der eigenen Familiengeschichte verstanden werden. Besonders die Begeisterung für eine bestimmte Sorte von „Ableitungen“ muß sich die Frage gefallen lassen, ob es sich hier nicht um ein (unbewußtes) Ausweichen vor der Konfrontation mit der „Kriegsgeneration“ handelt. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn so getan wird, als hätten in Österreich oder Deutschland Staat, Kapital und Arbeit keine besondere Geschichte, als gäbe es zwischen den werktätigen Staatsbürgern und der „Industrie“ nicht ganz besondere, „verdrängte“ Beziehungen, die mit dem Mord an den Juden, der Zwangsarbeit und dem Raub zusammenhängen, wodurch die Struktur dieser Beziehungen bis heute geprägt ist.  
 
Bestimmte theoretische Spekulation werden problematisch, etwa dann, wenn in die durchaus diskussionswürdige These von der „Krise der Politik“ der sehr konkrete Rassist und Antisemit Jörg Haider so hinein gepreßt wird, bis schließlich der Rassist und Antisemit hinter dem „Modernisierer“ verschwindet. Und dies nur aus dem einen Grund, daß sonst die besagte Theorie nicht „aufgehen“ würde. An diesem Punkt wird der Ableitungstheoretiker (zunächst ungewollt) zynisch und gleichgültig gegenüber dem Opfer des Rassismus und Antisemitismus. Seine Leidenschaft für die Logik hat über seine politische Verantwortlichkeit gesiegt. Es geht gewiß nicht darum, jede theoretische Spekulation als Ausweichmanöver zu denunzieren. Doch viele Ableitungstheoretiker produzieren durch ihr Klassifikationssystem eine nicht zu akzeptierende Distanz gegenüber der Bedrohung, der die von Antisemiten und Rassisten Angegriffenen ausgesetzt sind.  
 
Ein phantasmatisches Motiv: „Schuld sind die Postmodernen“  
 
Der unbewußte Wunsch nach Distanz gegenüber aktuellen Ereignissen, die mit der Vergangenheit der eigenen Angehörigen in Verbindung stehen, führt leider viele Ableitungstheoretiker dazu, daß sie Schuldige für das (ihnen nicht verborgen bleibende) Mißlingen ihrer Konstruktionen suchen. Doch gerade weil ihnen ihr theoretisches Instrumentarium Schutz vor der Frage nach dem eigenen Sprechort bietet und - unbewußt - auch bieten soll, tendieren sie zu einem Phantasma, dessen Funktion darin besteht, die tatsächliche Nicht﷓Identität der Subjektposition „kompromißloser linker Theoretiker ohne jede Verpflichtung gegenüber der Tätergeneration“ zu verhüllen und seine Widersprüche nach außen zu verlagern. In den letzten Jahren hat sich dabei bei einigen der linken Ableitungstheoretiker ein seltsames Feindbild entwickelt. Ihnen erscheinen nämlich (meist nicht näher benannte)  
„Postmoderne“ bzw. „die Postmoderne“ (die auch nicht näher definiert wird) als Kräfte, die diese Identität zerstören wollen. So werden die eigenen Antagonismen negiert und auf andere projiziert.  
 
Ich möchte diese Tendenz am Beispiel einer sechsteilige Serie über das „Haider-Phänomen“ erläutern, die Franz Schandl in der Berliner Tageszeitung „Junge Welt“ veröffentlicht hat. Schandl sagt dort, daß die Freiheitlichen „kein faschistisches Projekt“ sind, daß man sie „nicht unterschätzen“, aber auch „nicht überschätzen“ sollte. Er spricht von „braunen Spritzern“. Des weiteren meint Schandl, daß „Inhalte“ bei Haider (anders als bei SPÖ und ÖVP und anders als bei den echten Nazis) „nur noch als diffuse Schablonen“ dienen; sie sind nichts als „austauschbare Identifikationsmomente“, denn „die politischen Lager sind weitgehend einem Wanderzirkus der Wechselwähler gewichen.“ Mehr noch: „Oberflächlich betrachtet ist Jörg Haiders Politik eine Politik der Inszenierungen. Da steckt, um hier selbst den postmodernen Jargon zu gebrauchen, keine große Erzählung mehr dahinter.“ Bei der FPÖ, so Schandl weiter, kommen die „regressiven Potentiale der Postmoderne ganz ungeschminkt zu sich.“ Haider betreibt eine „postmoderne Beliebigkeit.“ „Haiders Entlarvung kann nur als spezifische Destruktion des politischen Postmodernismus geleistet werden.“ Haiders Politik sei „eine Wucherung“ der Postmoderne.  
 
Man merkt diesen Statements ein gewisses phantasmatisches Motiv an. Denn mit keinem Wort erklärt der Autor, was wir überhaupt unter „Postmoderne“ zu verstehen haben. Ich weiß nicht, ob Schandl einmal darüber nachgedacht hat, was solche Sätze für die bedeuten, auf die der rassistische und antisemitische Haß gerichtet ist. Ich kann hier nur einige von Schandls Sätzen kommentieren: So ist zum Beispiel die Annahme nicht haltbar, ein „richtiger Faschismus“ beruhe auf einem konsistenten Konzept und Haider hätte ein solches nicht. Wer will, kann dazu Raul Hilberg lesen: „Hitler berief und stützte sich nicht auf eine politische Theorie. Er formulierte nicht einmal Fernziele“ (Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer, S. 22). War Hitler also der erste postmoderne Politiker? Dann wäre Haider ihm näher als Schandl annimmt. Ähnliches wird aber auch über Gerhard Schröder im „Spiegel“ gesagt: „Er hat kein geschlossenes Weltbild. Sein postmoderner Politikstil benutzt Sprachbilder und Beispiele aus der Historie unbekümmert.“ Man sieht, wir befinden uns mit Schandl mitten im Feuilleton. Auch hat Politik mit „Inhalten“ überhaupt nichts zu tun. Politik stellt fest, sagt etwas voraus oder warnt vor etwas. Das sind performative Akte. Solche Akte sind mehr als eine „Meinung“, weil sie bereits etwas verändern und zunächst weniger als eine Verhaftung oder eine Kriegserklärung, weil das physische Akte (der Regierung bzw. der Bürokratie) sind, die erst die Lücke zwischen Konzeption/Zuschreibung und Realität durch das Schaffen von Tatsachen schließen.  
 
„Die Inszenierung des Scheins“  
 
Schandl behauptet schließlich, Haider sei ein „modernisierter Führertyp“, der auf die „Krise des Keynesianismus“ reagiere. Auch hier ahmt er bestimmte hegemonialen Diskurse nach, die mit anderen hegemonialen Diskursen - „der neue Wähler“, „die Globalisierung“ etc. - verknüpft sind. Daß die Orientierung an Personen die Bindung an Parteien ersetzt, kann in Deutschland jeder Wahlanalytiker belegen. Alle Welt weiß, daß der „moderne Wähler“ flexibel wählt ist und keine Parteitreue kennt. Schandls Jargon macht einen stutzig. Es gab schließlich genug Leute, die während der Nato-Angriffe auf Jugoslawien die dumme Erklärung in Umlauf brachten, dies sei nun der „erste postmoderne Krieg“ (General Naumann, diverse Autoren in Spiegel und ZEIT). Das sind Spekulationen im kulturkritischen Stil der Propheten der „nouvelles technologies“, die nichts erklären. Trotzdem fällt hier eine paradoxe Konstellation auf: Da solche Autoren ihrerseits keine exakte Definition über den „Inhalt“ der „Postmoderne“ geben, scheint ihr Ressentiment auf eine weitere Verdrängung zu verweisen: Sie schimpfen alles „postmodern“, weil ihre eigene Praxis - der Feuilletonismus, das Kommentatorentum, die Unverbindlichkeit, die Distinktionsstrategien, die Theatralisierung des „theoretischem Kampf“ etc. - genau das Design hat, das sie der „Postmoderne“ nachsagen. 
 
Nehmen wir nur Schandls These, Haiders Politik sei „eine Politik der Inszenierungen“. Wo hat er diese These her? Von den „Postmodernen“. Seit Ende der 70er Jahre überflutet eine Fülle von „postmodernen“ Publikationen den Buchmarkt, die den Terminus „Inszenierung“ bzw. „Inszenieren“ im Titel führen: „Die Inszenierung der Alltagswelt“ (1977), „Die inszenierte Volksgemeinschaft“ (1985), „Inszenierte Ereignisse“ (1988), „Die Inszenierung des Scheins“ (1992), „Kultur-Inszenierungen“ (1995), „Körper-Inszenierungen“ (1996), „Inszenierungsgesellschaft“ (1998). Aber ist das wirklich ein „postmodernes“ Phänomen? Eine derartige Häufung von Titeln erinnert doch nur an die Akkumulation von Buchtiteln, die mit dem Begriff „Theater“ operieren, wie sie im 17. Jahrhundert zu beobachten ist: „Theatrum Morum „(1608), „Theatrum Europaeum“ (1634), „Theatrum chemicum“ (1661) etc. Diese Aufzählung erinnert wiederum an Karl Marx, der offenbar „postmodern“ genug war, um sein gesamtes Werk um Begriffe aufzubauen, die dem semantischen Feld des Theaters angehören: Aufführung, Schauspieler, Darsteller, Körper, Rolle, Charakter-Maske, Schauspiel, Bühne, Schauplatz, Wahrnehmung. Wie bei der „Inszenierung“ sollen solche Begriffe uns daran erinnern, daß die kapitalistische Welt nicht besonders „authentisch“ ist. Für Marx war „Inszenierung“ keine negative Beschreibung, sondern ein Wort für schöpferische Hervorbringung. Für Schandl ist „Inszenierung“ jedoch ein verdächtiger, manipulativer und ästhetisierender Vorgang. Schandl befürchtet, daß die Inszenierung nicht als solche erkannt wird. Doch in der Politik zielt die Inszenierung von Wirklichkeit gerade darauf, daß andere sie als solche erkennen. Haiders Wähler wissen schließlich genau was gespielt wird und sie wollen, daß gespielt wird.  
 
Wir streifen hier selbstverständlich die Frage des „Konstruiertseins“ von Wirklichkeit oder ihrer empirisch-authentischen Vorgängigkeit (Sein, Wahrheit, Authentizität versus Schein, Simulation etc.). An dieser Stelle denkt mancher Ableitungstheoretiker, er sei mitten in die verfluchte Postmoderne geraten. Mitten hinein in die Diskurse über den symbolischen Dingwert innerhalb der westlichen Konsumgesellschaft, den symbolischen Tausch, die permanente Simulation von Realität etc. Aber genau davon handelt doch das Marxsche „Kapital“. Marx hat im Band 3 von „Das Kapital“ die grundsätzliche Zeichenbezogenheit der Realität herausgearbeitet und gezeigt, daß zwischen dem System objektiver Regelmäßigkeiten und dem System der direkt wahrnehmbaren Verhaltensformen eine strukturierte und strukturierende Vermittlung existiert, die von Bourdieu als Habitus bezeichnet wird. Mit dieser Kategorie läßt sich das Feld der symbolischen Macht analysieren, auf dem die sozialen Unterschiede als symbolisch-kulturelle Differenzen (u.a. als Rassismus, Antisemitismus, Kulturalismus, „Geschmack“) ausgetragen werden. Erst wenn man (kulturelle) Zeichen als politische Machtmedien betrachtet, lassen sich die symbolischen Kämpfe um legitime Benennungsmacht, wie Haider sie führt, bewerten. 
 
Die Bibliothek von Babel  
 
Kapitalistische Gesellschaften sind Gesellschaften des beständigen, schnellen und permanenten Wandels. Wie schon der „postmoderne“ Marx sagte: Der Kapitalismus ist „die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung ... Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.“ (MEW 4, 465). 
 
Man weiß heute, daß der englische Ausdruck „post-modern“ schon überraschend früh, nämlich siebzehn Jahre vor dem deutschen Substantiv „die Moderne“ auftauchte: 1870 im Unterschied zu 1887. Marx, der bis 1883 lebte, könnte ihn sogar gekannt haben. Jedenfalls kannte er das Phänomen gut, das mit diesem englischen Ausdruck bedacht wurde. Die Feststellung einer „postmodernistischen“ Tendenz ist auch bereits in „Finnegans Wake“ (1939) von James Joyce und im Textuniversum von Jorge Luis Borges (1944) vorhanden und natürlich in Walter Benjamins Essay über Baudelaires Paris, in Kafkas „Prozeß“ oder in Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Alle diese Werke erwiesen sich als prophetisch gegenüber dem, was dem cartesianischen Subjekt in der „Postmoderne“ bzw. „Spätmoderne“ zustoßen sollte. 
 
Nach Schandl, der all dies offensichtlich für einen brandneuen Trend hält, gleicht Haiders Partei „einem Betrieb, dessen Zweck darin besteht, Einfluß und Stimmen zu akkumulieren.“ Wenn Haiders Partei aber als einzige wie ein kapitalistischer Betrieb funktioniert, müßte Schandl sie, um in seiner Logik zu bleiben, als modern bezeichnen, und nicht als postmodern. Denn dann sind die anderen Parteien nur vormodern. Aber ist es denn so? Machen Betriebe etwa Politik und sind von Parteien nicht mehr zu unterscheiden? Nach Schandl ist es dem Stimmenmaximierer Haider auf die selbe Weise egal, ob er für die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten oder für den heiligen Sonntag ist, wie es dem Kapitalist egal ist, ob er den Profit mit Stahl oder Gurken maximiert. Die Leser ahnen jedoch, daß der Autor sich hier von einem Gedanken hat mitreisen lassen: Ist es Haider denn auch egal, ob er für oder gegen Migranten, für oder gegen Rassismus ist? Hat Haiders Politik wirklich keine Richtung?  
 
Schandl denkt paradigmatisch. Er ordnet die Ereignisse und Objekte begrifflichen Kategorien zu. Jedes Ereignis gilt als ein „Fall“ einer Kategorie. Was in die Kategorien nicht hinein paßt, wird einfach draußen gelassen. Zum Beispiel die Opfer von Haiders Politik. Für die gibt es in Schandls System einfach keine richtige Kategorie (was er sicher bemerkt und bedauert, was ihn aber auch wütend auf geheimnisvolle Kräfte macht, die ihm die glatte Analyse verderben). Bei den Tätern ist das anders. Schandl nennt sie - wir befinden uns in einem der reichsten Ländern Europas - die „vom Kapitalverhältnis Bedrohten.“ Ich bin sicher, daß Schandl die Täter nicht entschuldigen will. Er braucht die Einordnung der Haider-Wähler in die Kategorie „Opfer des Kapitals“ lediglich für sein Modell vom „objektiven Zusammenhang“. Aber daß er, nachdem er sich für sein Modell entschieden hat, dieses selbst dann nicht verwirft, einschränkt oder modifiziert, wenn er feststellen muß, daß er auf diese Weise unvermeidlich die Opfer aus dem Auge verlieren muß, das halte ich für eine „unbewußte“ Form der Anpassung.  
 
Selbstermächtigung durch Dramatisierung des „theoretischen Kampfes“  
 
Wo es um Antisemitismus und Rassismus geht, also um Ausgrenzung, Degradierung und Mord, müssen wir der möglichst genauen Beschreibung der Ereignisse den Vorrang geben. Die Theorien, mit denen wir dabei arbeiten, müssen sich an dieser Aufgabe bewähren, und sie bewähren sich nicht, wenn wir uns mit ihnen von den Ereignissen entfernen.  
Verallgemeinerungen wie Postmoderne, Poststrukturalismus, Adornismus etc. haben vor allem die Funktion, Einzel- und Gruppenproduktionen mit Bedeutung auszustatten und sich widersprechende Statements unter ein Logo zu zwingen. Das Subjekt ist gegenüber seinem Diskurs nicht frei. Diese Einsicht, daß auch linke Debatten Spieleinsätze der Macht sind, verdanken wir allerdings nicht den „Werttheoretikern“, sondern den „Poststrukturalisten“.  
 
Das enttäuschende Resultat der eigenen Ableitungs-Bemühungen und die Ahnung, daß man dem eigentlichen Thema damit im Grunde ausweicht, führt schließlich zur Suche nach „wirklichen Kämpfen“, die nun innerhalb des linken Milieus gesucht werden. Gerade weil man ausweicht, werden also willkürlich Ersatzereignisse produziert und Antagonismen geschaffen - durch leidenschaftliche Urteile, extreme Abwertungen, „vernichtende“ Kritik, persönliche Beleidigungen. Durch solche strategisch eingesetzten Dramatisierungen findet eine nachträgliche (mit der Sache selbst unverbundene) Subjektivierung der selbst als „unkonkret“ empfunden Ableitung statt, was wiederum mit der „postmodernen“ (in Wirklichkeit: modernen) Tendenz zur Selbstermächtigung und Selbststilisierung zu tun hat.  
 
Der Affekt gegen die „Postmoderne“ verdeckt also nur die realen Brüche der politischen Biographien und der Theorien. Ich habe vor drei Jahren in einem Aufsatz am Beispiel von Ebermann und Trampert exemplarisch vorgeführt, welche Camouflage hier im Spiel ist. Am Beispiel der „Ökosozialistin“ Jutta Ditfurth, die derzeit in der antisemitischen deutschen Illustrierten „Neue Revue“ eine „Abrechnung“ mit Joschka Fischer verbreitet, ließe sich die These erneut verifizieren. Während die „Ökolinke“ gerne alles als „postmodernen Mist“ qualifiziert, was sie nicht versteht, fürchtet sie in ihrer Praxis die Abgründe der „Massenkultur“ so wenig, wie das FAZ-Feuilleton Thomas Gottschalk fürchtet. Auch Ebermann/Trampert stellten sich in ihrem letzten Buch als entschiedene Gegner einer sogenannten Postmoderne vor. Doch gehören sie selbst zu den ersten Funktionären der 70er Jahre-Linken, die nach Regeln agierten und wahrgenommen wurden, die in den Feuilletons als „postmodern“ bezeichnet werden. Der Schritt, der sie aus der Enge der K-Gruppen heraus führte und sie zu „schillernden Individualisten“ machte, war ihr Beitritt zur Partei der Grünen.  
 
Wie Adolf Hitler Franzose wurde 
 
Die verbreitete Gleichzeitigkeit von Denunziation und Faszination gegenüber der „Postmoderne“ zeichnet sich im „deutschen Sprachraum“ durch einige Besonderheiten aus. So wurde zum Beispiel in Westdeutschland das „postmoderne Wissen“ gerade über die Politische Ökologie etabliert, über eine Anschauung also, die in der Welt nicht mehr eine Einheit sieht, sondern ein Patchwork sozialer Relationen, in dem sich die Frage, ob jemand „links“ oder „rechts“ steht, erübrigt. Die Grünen haben die Importe aus Frankreich also umgehend in einer neuen deutschen Wurzelhaftigkeit aufgehen lassen und sich dann mit dieser speziellen Fassung in die Staatspolitik eingebracht. Gleichzeitig hat der Unterstützer dieser „neuen sozialen Bewegungen“, Habermas, obwohl er selbst das Feuilleton nicht verschmäht, wie ein Wachhund die Grenzen der Disziplinen verteidigt, als „die Franzosen“ den Unterschied zwischen Philosophie und Fiktion in Frage stellten. Irgendwann kam man dann auf den Dreh, das Label „Postmoderne“ mit dem Faschismusvorwurf zu kombinieren. Die eigene Frankophobie: hier Deutsch - dort Welsch, wurde dabei nach einem bekannten Muster dramatisiert. So wie Hitler heute angeblich in die Serben gefahren ist, so war er zuvor schon (als Heidegger) in die Franzosen gefahren. Scheinbar vorsichtige Präfixe wie krypto-, prä- oder neo- sollten den Faschismus-Vorwurf nur akzeptanzfähiger machen. Als Heilmittel gegen die Franzosensucht, empfiehlt z.B. Manfred Frank der deutschen Philosophie, „in der Herausforderung durch die Postmoderne die Chance zur Wiederbegegnung mit ihrer eigenen, verleugneten Tradition“ zu erkennen. Gemeint ist eine über jeden Zweifel erhabene „deutsche“ Tradition, auf den hehren Idealismus und die holde Romantik nämlich - von denen Frank zufolge offenbar keinerlei Verbindungslinien zum - nunmehr undeutschen - Faschismus führen.  
 
Man sollte sich auf die Frontstellung „Marxismus“ versus „Postmoderne“ nicht einlassen. Sie wird oft genug von Leuten forciert, die den Blick auf die soziale Welt verlernt haben und sich nur innerhalb des linken Milieus bewegen wollen. Statt dessen kommt es darauf an, wieder eine überzeugende Erzählung in Gang zu setzen. Die Linke kann nur Partei derjenigen sein, die von den unterschiedlichen „Herrenmenschen“ ausgegrenzt werden. Es müßte doch möglich sein, daß Linke auch denen zur Sprache verhelfen, auf die Haiders Publikum es abgesehen hat.  
 
Literatur.  
 
Peter Böhmer: „Wer konnte, griff zu. Vermögenssicherung „arisierter“ und herrenloser Güter im Krautland-Ministerium 1945-1949“. Böhlau Verlag, Wien 1999 
Reinhard Engel, Joana Radzyner: „Sklavenarbeit unterm Hakenkreuz. Die verdrängte Geschichte der österreichischen Industrie“. Deuticke Verlag, Wien 1999 
Wolfgang Dreßen: „Betrifft: Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn“. Aufbau Verlag, Berlin 1999 
Werner Abelshauser: „Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit“. In: Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte, Heft 4, Oldenbourg, München 1999 
Gabriele Rosenthal (Hg.): „Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Opfern und Tätern“. Edition Psychosozial, Gießen 1997 
Dan Bar-On: „Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern“. Rowohlt, Frankfurt 1993 Martin S. Bergmann/Milton Jucovy/Judith Kestenberg (Hg.): „Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust“. Fischer, Frankfurt 1995,  
Günter Gödde: „Traditionslinien des „Unbewußten“. Schopenhauer, Nietzsche, Freud“. Edition Diskord, Tübingen 1999  
Thanos Lipowatz: „Politik der Psyche. Eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen“. Turia Kant, Wien 1998, 285 S., 42 Mark 
 
(Anfang 2000 erschienen in „Weg & Ziel“, Wien) 
 
 
 
 
 

 

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Letzte Änderung am 12.09.2017
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