Andere Erz-Standorte (1) - Gröditz
Projekt Eisenerz 2001
(D) Materialien
Erzverarbeitung und Zwangsarbeit im sächsischen Gröditz
Gröditzer Stadtzeitung Nr. 02/2001
Als 14-jähriges Mädchen wurde Antonia Dorogowa aus Wolgograd mit ihren Eltern und ihrer Schwester zur Zwangsarbeit nach Gröditz verschleppt. Hier verstarb ihre Mutter und wurde in Frauenhain beerdigt. Frau Dorogowa hat den sehnlichen Wunsch, gemeinsam mit ihrem Sohn das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Das Geld dafür kann sie aber nicht aufbringen. Auf Initiative des Betriebsrates des Stahlwerkes wurde dafür Geld gesammelt. Es reicht aber noch nicht. Daran darf aber doch der Besuch nicht scheitern! Wer mit einer Spende helfen will, melde sich bitte unter Tel.: 62 460.
Gründerzeit in Gröditz
Einst bestimmte das Stahlwerk den Rhythmus der Stadt. Jetzt zieht in den sächsischen Ort wieder dörfliche Ruhe ein
Der Bahnhof im sächsischen Gröditz wurde einst für bessere Zeiten gebaut. Das ist lange her. Am Bahnhofsgebäude hängt noch die Reklame der Brauerei, die hier bis vor kurzem die Verträge mit dem Wirt machte. Fahrkarten gibt es nicht mehr, keine Abfertiger und keinen Schrankenwärter. Ich bin die Einzige, die aus dem Zug Elsterwerda-Riesa aussteigt.
Heute ist schon vollkommen vergessen, dass das Stahlwerk einst wie magnetisch Züge von manchmal 70 Waggons anzog, bis oben hin gefüllt mit Kalk, Mangan und Schrott. Die Martinöfen hatten gefräßige Mäuler. Die Schranken waren geschlossen, die Leute ärgerten sich. Wenn die Schranke schließlich doch einmal hochging, schlüpfte man schnell durch, und dann kam schon der nächste Zug. (*)
Hinter der heute nur noch selten geschlossenen Schranke weist ein Schild zum Hotel Spanischer Hof. Was sofort auffällt, ist eine nagelneue gelbverputzte Villa gegenüber der Post. Mit ihren schmiedeeisernen Gittern, der Freitreppe und der rückwärtigen Veranda, den Sprossenfenstern und dem ausladenden Dach sieht sie aus, als wäre sie einem Baukatalog um 1880 entnommen, aus dem die neureichen Kriegsgewinnler des deutsch-französischen Krieges ihre Prunkvillen zusammenschusterten. An der Klingel steht K. Mustermann. Gebaut hat der örtliche Unternehmer Henry Wendt. Das Schild "Henry Wendt - Unser Installateur" findet sich an mindestens einem Grundstück jeder Straße in Gröditz. Bevor ich hierher fuhr, hatte mir jemand berichtet, im Volksmund würde die Stadt jetzt spöttisch Wendtland heißen. Es gibt den Installateur Wendt, das Bistro Wendt und Elektro-Wendt.
Ich hatte mir einen beschaulichen sächsischen Marktplatz mit Rathaus, Brunnen und Kirche vorgestellt. Stattdessen gibt es eine riesige freie Fläche, rechts begrenzt von einem Einkaufszentrum, in Richtung Bahnhof von einem verfallenen Kino, in Richtung der Gleise von einem Brachland, das einmal das Zellstoffwerk war. In der Mitte steht der Imbiss des Vietnamesen Vu Ha. Chinapfanne und Döner Kebap.
Das Einkaufszentrum war zu DDR-Zeiten ein Zweigbetrieb des Textilkombinates Mittweida. Hier schneiderten Gröditzer Frauen Babykleidung für Neckermann. Die Gröditzer Babys trugen die Sachen nur, wenn sie in den Westpaketen abgetragen in den armen Osten zurückgeschickt wurden. Nach der Wende schloss das Werk. Aus dem Westen kam ein Investor, die Familie Braun, die Jahre in Kanada verbracht hatte. Sie bauten die Betriebshallen zu einem Einkaufszentrum um. Hier sollte nicht mehr produziert, sondern konsumiert werden. "Auf der Treppe ist das Sitzen und Verzehren von Speisen und Getränken untersagt." Es gibt die SB-Fundgrube, Pfennigpfeiffer, einen Supermarkt, ein kleines Bistro und den Gröditzer Tuningshop. Später werde ich in einer Kneipe erfahren, dass die Jugendlichen ihre Reifen wieder auf Normalhöhe zurückschrauben lassen - die Straßen sind zu schlecht für tiefergelegte Autos.
An der Fleischtheke in einem Nebengebäude stehen die Gröditzer an. "13 Scheiben Salami", sagt eine Frau und die Verkäuferin zählt mit stoischer Ruhe 13 Salamischeiben auf die Bratengabel. Auch die Frauen und wenigen Männer nach ihr in der Schlange machen es nicht anders, ob es nun Mortadella, Rotwurst oder Pastete ist. Sie verlangen keine 100 Gramm, sie verlangen nach Stückzahl.
Das mit den Wurstscheiben war immer schon so. Und irgendwann habe ich mal gedacht, können die nicht abschätzen oder haben die Angst, ein Gramm zu viel zu erwischen? Das ist eine ganz bestimmte Verbohrtheit, fast etwas Schottisches. Man konnte nach jedem die Uhr stellen, es wurde auch in den Betrieben extrem auf Pünktlichkeit und auf Normerfüllung geachtet. Und ich glaube, das hat sich aus dem Produktionsprozess heraus in den Alltag übertragen.
Das Stahlwerk thront mit seinen hohen Hallen über den niedrigen Häusern des ehemaligen Dorfkerns. Dieses Werk war mehreren Generationen Vater und Mutter zugleich. Und es bestimmte den Rhythmus der Stadt, die, nachdem es seine Bedeutung verloren hat, langsam wieder zu den dörflichen Strukturen zurückkehrt, aus denen sie sich mit Hilfe der Industrie entwickelt hatte.
4.984 Zwangsarbeiter
Der Ort hatte ein rhythmisches Stampfen, das einem manchmal zu Bewusstsein kam. Die Magnetkräne haben den Schrott verladen und ausgeklinkt und dann fiel mitunter tonnenschweres Metall auf die Erde. Dann ging ein Rumsen durch den Ort. Die Bevölkerung hing rhythmisch am Stahlwerk mit seinen Schichten. Die Arbeiter kamen als Wolke von Fahrrädern, wie Insektenschwärme flogen die einen ein und kurz danach die anderen aus. Fünf Minuten später war der Ort wieder leer. Heute scheint es, als sei ewig Sonntag.
Auf einer Postkarte "Gruß aus Gröditz" aus der Zeit um die Jahrhundertwende sind links das Zellulosewerk und rechts das Eisenwerk zu sehen - zwei Betriebe, die über zwei Jahrhunderte die Entwicklung des Dorfes Gröditz zu einer Stadt erst ermöglichten. Dass das Stahlwerk errichtet wurde, war dem kleinen Fluss zu verdanken, der Gröditz in der Mitte zerschneidet - die Röder. 1779 kaufte der sächsische Kabinettsminister Detlev Carl von Einsiedel die alte Gröditzer Mühle und errichtete hier eine Stabhütte. Das Roheisen kam aus dem benachbarten Eisenwerk Lauchhammer. Im Ergebnis des Wiener Kongresses von 1815 fiel Lauchhammer an Preußen, und die hohen Zölle ließen eine wirtschaftliche Einfuhr von Roheisen nicht mehr zu. So wurden einige Jahre später zwei Hochöfen in Gröditz errichtet, und in den folgenden Jahrzehnten machte sich das Gröditzer Werk vor allem mit Gussröhren einen Namen. Richtig groß wurde das Stahlwerk aber erst durch die Rüstungsproduktion. Im ersten Weltkrieg beschäftigte es schon 1.300 Arbeitskräfte.
Meine Mutter stammte aus dem dörflichen Milieu, da gab es auch mal einen Schneider oder einen Bahnwärter. Ansonsten heiratete man ins Stahlwerk. Meine beiden Großväter waren noch ungelernte Arbeiter. Der eine war Rücksiedler aus Russland, in den zwanziger Jahren gekommen, der andere war ein Arbeiterkind aus Gröditz mit sechs Geschwistern und vier Klassen Schule. Dann waren die arbeitslos bis in die dreißiger Jahre und relativ glücklich, als die Rüstungsproduktion in Gröditz begann. Und durch die Rüstungsproduktion der Nazis ist dieser Betrieb damals verdreifacht worden, das expandierte dann nochmal zu DDR-Zeiten. Dadurch hat das alle, die in der Umgebung wohnten, angezogen. Irgend jemand aus der Familie arbeitete immer im Stahlwerk.
In den dreißiger Jahren wurde das Gröditzer Stahlwerk, inzwischen zum Flickkonzern gehörend, noch einmal erweitert. Hergestellt wurden Artilleriegeschosse und Geschützteile. 9.500 Arbeiter hatte das Werk inzwischen, unter ihnen, laut Zählung von Januar 1945, 4.984 Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, mehr als der Ort zu dieser Zeit Einwohner hatte. 586 Menschen starben an Unterernährung, Unfällen und Selbstmorden, an Typhus oder wurden auf der Flucht erschossen. 1945 wurden Stahl- und Zellstoffwerk entsprechend der Beschlüsse von Jalta demontiert und als Reparationsgut in die Sowjetunion gebracht.
Es gibt eine große Legende, seit ich denken kann. Erst haben sie meine Großeltern erzählt und dann habe ich sie noch einmal in den Pioniernachmittagen von Arbeiterveteranen gehört. Es war die von der letzten Drehmaschine, die von den Russen nicht mitgenommen wurde und mit der der Neuaufbau nach dem Krieg begann. Und dann hieß es: "Wenn wir nur noch einen Nagel und einen Hammer haben, wir bauen unser Werk wieder auf." Das war das große Drama dieser Generation. "Unser Werk" ist so eine typische Redewendung. Sie hatten nie das Gefühl, dass ihnen das nicht gehörte. Das wird heute in keiner Weise reflektiert, dass es in bestimmten Bereichen ein Bewusstsein von Volkseigentum gegeben hat.
Bedingt durch die ständige Erweiterung des Stahlwerks wuchs die Einwohnerzahl von Gröditz von 6.000 im Jahr 1950 auf 10.000 im Jahr 1988. Es gab nie genug Wohnungen. 1967 wurde am Kanal eine Wohnsiedlung errichtet, 1979 begann man mit dem Bau von WBS 70-Plattenbauten am Rand des Ortes. 1967 wurde Gröditz bei einem Festakt in der Kulturstätte die Urkunde über die Verleihung des Stadtrechtes übergeben.
Der Ort hatte eine ambivalente Existenz. Die Leute fuhren auf Schicht in dieses Werk, dann rumste und bumste es, das waren riesige Gewalten, und dann fuhren sie nach Hause in ihre Schrebergärten und gossen ihre Blumen. Eine proletarische Gesellschaft sucht eine ganz andere Öffentlichkeit als jemand, der sich im Urbanen bewegt. Jemand, der dermaßen hart arbeitet, wo die Funken fliegen, der will hinterher am Kanal sitzen und angeln und seine Amsel betrachten. Es gab unzählige Ornithologen, Wandervögel und Blumenzüchter, die sich in der Kulturstätte trafen und ihre Erfahrungen austauschten. Das war das andere Extrem. Gestandene Schmelzer, die nach Feierabend mit den Vögeln redeten und dabei sentimental wurden.
In den achtziger Jahren aber wuchs das Stahlwerk nicht mehr. Auch ohne das Ende der DDR hätte es Strukturanpassungen geben müssen. Die Zeit der Schwerindustrie ging ihrem Ende zu. Nach der Wende sahen die Perspektiven von Gröditz nicht rosig aus. Die Treuhand schloss das Zellulosewerk, im Stahlwerk wurden Tausende Arbeitsplätze abgebaut. Die Stadt, die am Tropf des Stahlwerkes hing, stand plötzlich alleine da. Hatte es vor der Wende noch 4.000 Beschäftigte gegeben, sind es im Jahr 2000 noch 700. Die Perspektive ist ungewiss. 1999 forderte die EU-Wettbewerbskommission die Rückzahlung von 239 Millionen Mark mit der Begründung, die Bundesregierung habe dem Stahlwerk unrechtmäßig geholfen. Das Verfahren schwebt noch.
Der gute Mensch von Gröditz
1992 kam Siegfried Richter nach Gröditz. Er hatte im Juli 1948 seinen Heimatort verlassen und im Rheingau ein florierendes Polsterunternehmen aufgebaut. Nun war er im Ruhestand auf Teneriffa. Siegfried Richter fand im Rentenalter ein neues, wenn auch kostspieliges Hobby: Gröditz. Er bot der Stadt als erstes 100.000 DM für einen Wettbewerb zur Verschönerung der Fassaden. Motto: "Gröditz soll schöner werden". Die Gröditzer nahmen das Angebot zuerst zögerlich an, entschieden sich dann schließlich aber doch, mitzumachen, weil der Nachbar es auch tat, und auf die Pflege der Gärten hatte man schließlich immer viel Freizeit verwandt. Nach vier Jahren hatten 375 von 426 Hausbesitzern ihr Grundstück verschönert, und Siegfried Richter wurde Ehrenbürger der Stadt. Er setzte 25-mal 10.000 Mark für Existenzgründer aus, finanzierte ein Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkrieges und gab Geld für die Renovierung seiner alten Schule. Am liebsten hätte er Gröditz in "Röderstadt Gröditz" umbenannt, damit es in der Fremde nicht immer mit Görlitz verwechselt wird. Dann wollte er Investoren überreden, einen Disneypark in der Umgebung von Gröditz zu bauen. Die aber hatten kein Interesse, angeblich wegen des Fehlens eines hochklassigen Hotels in der Stadt.
Das Hotel, das Siegfried Richter schließlich selbst, mit Hilfe örtlicher Baubetriebe und ohne Kredit baute, ist ein absolutes Kuriosum. Angesichts des Gebäudes möchte man glauben, dass es einen Gott gäbe, der aus Versehen neben dem sächsischen Stahlwerk ein Hotel abgeworfen hat, das eigentlich für Spanien vorgesehen war: in maurischem Stil. Höhepunkt der Innengestaltung ist die Bibliothek - eine Nachbildung von Richters Wohnzimmer in Teneriffa mit einem Ölporträt des Gönners. Nur die Bücher in den Regalen sind offensichtlich nicht kopiert. Sie lassen eher auf eine abgewickelte öffentliche Bibliothek oder Spenden aus Gröditzer Bücherschränken schließen. Hotelgäste des "Spanischen Hofes" bekommen zur Begrüßung neben einem Getränk ein selbstverfasstes Buch von Siegfried Richter geschenkt: "Der Mutmacher. Ein Sachse kehrt heim." Da kann man abends, mitten auf der spanischen Insel im sächsischen Meer die Erfolgsgeschichte eines Mannes nachlesen, während unten im Restaurant die Angestellten in spanischen Kostümen die drei bis vier Gäste bewirten. Denn die Gröditzer kommen nicht sehr zahlreich in die Bodega, die Richter extra für sie hat einrichten lassen. Das Bier ist zu teuer, oder wie Bürgermeister Bölke sagt: "Der Stahlwerker fühlt sich da nicht wohl."
Im Rathaus
Zu bestimmten Anlässen ließ Richter die Glocken des Eingangstors läuten, die er in Lauchhammer hat gießen lassen. Sie heißen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das letzte Mal erklangen sie, als Siegfried Richter am 27. September 2000 auf Teneriffa starb, drei Wochen nach seinem letzten Aufenthalt in Gröditz, als sein letztes großes Projekt, die Renovierung der Schwimmhalle, mit einem Festakt vollendet wurde.
Der Bürgermeister Andreas Bölke lässt nichts auf Richter kommen. Für ihn ist sein Engagement ein Investitionsschub für Gröditz gewesen, den es sonst nicht gegeben hätte. Andere denken anders darüber, aber sie wollen lieber nicht genannt werden. Sie vergleichen das Hotel mit einem Rolls Royce, den man geschenkt bekommen hat, ihn aber gar nicht halten kann, weil die Kosten zu hoch sind. Andere fragen sich, was hinter einem guten Menschen sich noch für Abgründe verstecken. Richter hat der Stadt das Hotel geschenkt. Weil die Stadt es alleine nicht halten könnte, will der Betreiber es der Stadt abkaufen. Die Erlöse werden in die Erhaltung der Schwimmhalle gesteckt. Eine Konstruktion, mit der mittlerweile die meisten leben können. Ob sie funktioniert, ist von der Auslastung des Hotels abhängig.
Es ist Mittagszeit, als ich das Zimmer des Einwohnermeldeamtes betrete. "Die Bevölkerungsentwicklung wollen Sie? Heute morgen waren allein fünf da, die sich auf Nimmerwiedersehen abgemeldet haben", sagt Frau Kühn. Der Weg ist immer der gleiche, in den Westen. Gröditz hat in den vergangenen Jahren 15 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Nichts Besonderes für den Osten. Die Zahl derer, die pendeln, wird nicht gezählt. Es dürften noch einmal zehn Prozent sein.
Die Generation meines Vaters sitzt am Kanal und angelt. Das sind die, die mit 50 in diesen Zustand der Freiheit ohne Arbeit versetzt sind. Die Jüngeren haben versucht, irgendwo einen Job zu finden bei diesen Honoratioren, bei den Handwerkern. Andere pendeln ewig weit, bis nach Westdeutschland. Die sind für Gröditz gesellschaftlich nicht mehr relevant. Sie kommen am Wochenende, spielen ein bisschen mit ihren Kindern, schlafen sich aus und sind wieder weg.
Durch die Siedlung "Am Kanal" läuft eine junge Frau mit einem Kinderwagen. Sie begegnet einer anderen Frau mit Kinderwagen, in dem ein etwa gleichaltriges Kind sitzt. "Baby muss arbeiten", sagt das eine Kind zu seiner Mutter und zeigt mit dem Finger auf das andere Kind. "Baby muss garni arbeiten", sagt die Mutter barsch und sehr sächsisch, "Baby muss spazieren gehen". Im Schaufenster einer Versicherung ist als abschreckendes Beispiel für Eltern ohne ausreichende Versicherung eine blutbeschmierte Puppe ausgestellt. "Meine Mutti hat gedacht, mir wird schon nichts passieren", steht in Schönschrift darunter. Ein Schaufenster weiter sitzt die gleiche Puppe, aber glücklich versichert. Neben der Bibliothek stehen Kühlschränke auf der Straße. Es sind die alten Ostkühlschränke, manche in liebevoller Kleinarbeit mit Holztapete beklebt. Wahrscheinlich funktionieren sie noch. Ganz am Ende der Stadt ist der Friedhof Wainsdorfer Straße. Es herrscht rege Geschäftigkeit, mehr als in der Stadt. Vor allem ältere Frauen mit Gießkannen bestimmen das Bild. Die Gräber sind so gut gepflegt wie die Vorgärten. Bevor sie gehen, schauen sie an einer neuen Grabstelle vorbei, die hier am 14. November eingeweiht wurde. 64 Zwangsarbeiter, die auf einem provisorischen Friedhof auf dem Gelände des Stahlwerkes bestattet waren, wurden hierhin überführt. Die Frauen am Grab lesen laut die Namen der Opfer vor. Eine bückt sich und zieht die Schleifen des Kranzes des russischen Konsulats gerade.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof komme ich am Wohngebiet Wainsdorfer Straße vorbei. Es sind WBS 70-Bauten aus der Endzeit der DDR. Damals waren sie begehrt, jetzt steht ein Teil der Wohnungen leer. Der Bürgermeister ist sich sicher, dass er den Abriss einiger dieser Häuser noch erleben wird. In der Wainsdorfer Straße steht auch eine der beiden Mittelschulen von Gröditz. Sie trägt den Namen des ersten Sachsen im Weltraum, Sigmund Jähn. Er wird wohl demnächst in den Weltraum zurückgeschickt, denn es gibt eine Mittelschule zuviel in der Stadt. Am Bahnhof verlassen die Gröditzer Gymnasiasten den Zug aus Riesa und verteilen sich in den Straßen. Nach dem Studium werden die wenigsten in ihre Heimatstadt zurückkehren.
(*) Die kursiv gesetzten Zitate sind einem Interview mit der Berliner Architekturhistorikerin Simone Hain entnommen, die in Gröditz aufwuchs.
Gekürzte Fassung aus:
Neue Landschaft. Sachsen. Elf Zustandsberichte und eine Polemik Hrsg. von Wolfgang Kil im Auftrag der Architektenkammer Sachsen, Verlag der Kunst, Dresden 2001, erscheint im April.
Annett Gröschner , in: „Freitag“ vom 23.3.01